Das Elsaß vom Hochmittelalter bis ins 17. Jahrhundert


Zu Beginn des 10. Jhs. ist die etwa auf der Höhe der Flüsse Lauter und Murg quer durch die Oberrheinlande laufende fränkisch-alamannische Stammesgrenze noch wirksam. Im nördlichen, fränkischen Teil steigen die Grafen des Worms- und Speyergaues zum deutschen Königtum empor. Ihre Macht erstreckt sich auch auf die rechte Rheinseite und verbindet so die beiden Ufer. Anders verhält es sich im südlichen, alamannischen Teil, wo sich das linksrheinische Elsaß unter eigenen Herzögen aus dem Etichonenhaus (erloschen 739) vom alamannischen Herzogtum trennt und der Fluß die Diözese Konstanz von der Nachbardiözese Basel scheidet, wogegen die Diözese Straßburg auf die rechtsrheinische Ortenau übergreift. Während im rechtsrheinischen Alamannien 917 eine neue herzogliche Gewalt hochkommt, drängt aufder linken Rheinseite das deutsche Königtum die örtlichen Gewalten zurück und schafft sich im Elsaß als dem Verbindungsland nach Burgund und zu den Alpenpässen einen starken Einfluß. Rechtsrheinisch umfassen unterdessen die Herzöge von Zähringen den Schwarzwald und das Gebiet der späteren Schweiz in ihrem Territorialstaat. Ihre Gegenspieler, die Staufer, bauen seit 1140 eine bedeutende Machtstellung im Elsaß auf, die sich bis in die spätere Pfalz hinein ausdehnt. Das Aussterben des zähringischen Hauses (1218) begünstigt den von den Habsburgern im oberen Elsaß und in der Schweiz betriebenen Ausbau ihres Territorialstaates, der später auch auf die rechte Rheinseite übergreift. Rechtsrheinisch gelingt den Markgrafen von Baden die Schaffung eines Territoriums, das Gebiete nördlich und südlich der alten Stammesgrenze umschließt.
Nach dem Untergang des älteren alamannischen Stammesherzogtums (746) dauert es mehr als anderthalb Jahrhunderte, ehe sich im Verband des Reiches ein jüngeres Herzogtum Schwaben bilden kann. Nach vergeblichen Versuchen von verschiedenen Seiten gelangt der Markgraf von Rätien, Burchard d. J. (917–926), ans Ziel. Das Schwergewicht des Herzogtums liegt anfangs am Bodensee im Hegau (siehe S. 293).
[S. 268:] Das Elsaß ist vom Herzogtum weitgehend unabhängig. Im Lande selbst gelingt es nicht, das alte Herzogtum der Etichonen zu erneuern. Die führenden Potenzen sind die Grafengeschlechter der Liutfriede und Eberharde, diese vornehmlich im Nordgau, jene im Sundgau. Beide Gaue sind seit dem 8. Jh. durch den nördlich von Kolmar und St. Pilt verlaufenden Landgraben getrennt, der auch die Grenze zwischen den Diözesen Basel und Straßburg darstellt.
Seit Einleitung seiner Italienpolitik sucht sich Otto der Große im Elsaß als dem Aufmarschgebiet gegen Burgund und Italien festzusetzen. Er läßt den Grafen Guntram den Reichen aus dem Hause der Eberharde, der von seinen Besitzungen aus die durch das Oberrheintal führenden Straßen sperren kann, auf einem Hoftag zu Augsburg wegen unberechtigten Besitzes von Fiskalgut verurteilen und seine Güter einziehen (952) . Den Großteil des Guntramschen Besitzes, insbesondere die Vogtei über das Kloster Lüders, erhält der burgundische Herzog Rudolf (962), der dadurch mit dem Reich in Verbindung gelangen soll. In gleicher Absicht wird das von Mitgliedern der kaiserlichen Familie im Innern Burgunds gestiftete Kloster Peterlingen mit Gütern bei Kolmar ausgestattet, und andere elsässische Klöster, wie Weißenburg und das 991 von der Kaiserin Adelheid gegründete Selz, werden in unmittelbare Verbindung zum Königtum gebracht. Die Eberharde können sich für den Verlust von Lüders durch Gründung des Rodungsklosters Altdorf in der Breuschniederung (974) entschädigen, in dessen Nähe sie die Burg Girbaden errichten. Von ihnen stammen sowohl die Grafen von Egisheim wie auch die Grafen von Habsburg ab, die zu Beginn des 12. Jhs. als Inhaber der Landgrafschaft im Sundgau in Erscheinung treten. Das entsprechende Amt für den Nordgau wird zuerst von den Grafen von Hünenburg, später von den Grafen von Werd ausgeübt.

[…]


[S. 270:] Die Staufer am Oberrhein

Hildegard, die Gemahlin des staufischen Ahnherrn Friedrich von Büren, entstammt dem Geschlecht der Grafen von Egisheim (im Oberelsaß). Ihr Heiratsgut ist der früheste staufische Besitz in der Oberrheinebene und verschafft den Staufern im Elsaß so viel Einfluß, daß 1084 mit Bischof Otto (1084–1100) ein Staufer auf den Straßburger Bischofsstuhl gelangt. 1085 errichten Hildegard, Bischof Otto und seine Geschwister das Stift St. Fides in Schlettstadt als eine staufische Gründung. Im Kampf mit den Egisheimern verstärken die Staufer während des Investiturstreits ihren Einfluß im Elsaß. Eine Urkunde von 1103 zeigt die Staufer im Besitz der Vogtei über das Kloster Weißenburg. 1104/05 errichten sie gemeinsam mit den Lützelburgern das Kloster St. Walburg bei Hagenau. 1115 unternimmt Herzog Friedrich einen Zug durch das Elsaß und unterwirft es Kaiser Heinrich V. Dieser Zug leitet den gewaltigen Burgenbau der Staufer ein, für den der elsässische Volksmund das Wort prägt: „Herzog Friedrich schleift am Schweif seines Rosses stets eine Burg mit.“ Staufische Burgengründungen sind u. a. Anebos, Annweiler, Lautern, Oppenheim und Oberehnheim, später noch Wickersheim, Kronenburg, Winstein, Blicksburg. Auch im Elsaß ist, wie in Schwaben, der Burgenbau ein Mittel staufischer Territorialpolitik. Der Anfall des salischen Haus-
[S. 271:] guts (1125) rundet den staufischen Besitz nach Norden ab. Um 1138 sind drei staufische Besitzkomplexe zu unterscheiden: der Heilige Forst bei Hagenau, einst dreigeteilt unter Salier, Staufer und Lützelburger, der unter Kaiser Friedrich I. ganz staufisch wird; Güter und Rechte aus der Vogtei über die Odilienbergklöster Hohenberg und Niedermünster, wozu insbesondere die Orte Oberehnheim und Rosheim gehören; Familienbesitz und Krongut bei Schlettstadt. Herzog Friedrich II. gründet im Schutz seiner Burg Hagenau 1115/25 eine Marktsiedlung, die Kaiser Friedrich I. 1164 zur Stadt erhebt. damit findet das zweite Mittel staufischer Territorialbildung, die Stadtgründung, auf dem linken Rheinufer erstmalig Anwendung. An der Lauter erbaut der Kaiser 1153 eine Kaiserpfalz mit Hospital, das 1186 in ein Prämonstratenserstift umgewandelt wird; im Anschluß daran entsteht später die Stadtsiedlung Kaiserslautern. In seine Regierungszeit fällt auch der Erwerb der beiden rechtsrheinischen Brückenköpfe Badenweiler (1157) und Breisach (1185). Überall werden die staufischen Burgen und Städte mit zuverlässigen Dienstmannen belegt. Ihre kraftvolle Politik schafft den Staufern besonders nach dem Tod Kaiser Friedrichs I. zahlreiche Gegner. So bildet sich im Elsaß eine antistaufische Koalition aus den Grafen von Dagsburg, den Bischöfen von Straßburg und Basel, den Herzögen von Zähringen und zahlreichen Adligen. Ein zur Einnahme von Straßburg führender Kriegszug Philipps von Schwaben 1198/99 wirft sie schließlich nieder.
Die Ankunft Friedrichs II. in Deutschland stellt das staufische Übergewicht am Oberrhein wieder her. Im gleichen Jahr 1212 sterben die Grafen von Dagsburg aus. Dadurch kommt Kolmar ganz in staufischen Besitz, wird in ein städtisches Gemeinwesen umgewandelt und ummauert (1214/26). Weitere Stadtgründungen Friedrichs II. sind Schlettstadt, Mülhausen, Oberehnheim, Molsheim, Rosheim, Kaysersberg und Münster. Friedrichs II. Gründungen liegen zumeist auf kirchlichem Boden, den sich der Kaiser oft mit robusten Mitteln verschafft, und haben in erster Linie strategische Bedeutung. Leiter dieses planmäßigen Städtebaues ist der Hagenauer Stadtschultheiß Wölfelin, wohl mehr in politischer Hinsicht denn als Architekt; er fällt 1235 in kaiserliche Ungnade und findet einen gewaltsamen Tod.

[…]

Deutlich sind zwei Epochen der staufischen Territorialpolitik am Oberrhein zu unterscheiden. Vor 1197 vollzieht sich der Ausbau in voller Ubereinstimmung mit den maßgebenden geistlichen und weltlichen Gewalten des Landes; ab 1212 ist sie in zunehmendem Maß durch eine immer stärker werdende Gegenwirkung, besonders seitens des Bistums Straßburg, gekennzeichnet. Die während des Thronstreits aufgegebenen Straßburger Kirchenlehen und das Erbe der Grafen von Dagsburg sind die Ursachen des staufisch-straßburgischen Gegensatzes. Infolge der einflußreichen Stellung der Ministerialität in den [S. 272:] Stauferstädten am Oberrhein halten diese treu zu ihrem Herrscherhaus. Bern, Zürich, Schaffhausen, Rheinfelden, Neuenburg, Breisach, Hagenau, Schlettstadt, Kolmar, Kaysersberg und Mülhausen bilden (1250) sogar einen Eidbund, den frühesten bekannten Städtebund auf deutschem Boden. Mit dem Tod Friedrichs II. und seines Sohnes Konrad IV. beginnt der Auseinanderfall des Territoriums.


Die Habsburger

Nach den Acta Murensia ist Lanzelin, Graf von Altenburg, ein Sohn des Grafen Guntram des Reichen, der 952 von Otto dem Großen verurteilt wird und seiner Güter verlustig geht. Sein Sohn Radbod, Graf im Klettgau, gründet zusammen mit seinem Bruder oder Schwager Werner, Bischof von Straßburg (1001–1029), der 1020 am Zusammenfluß von Aare und Reuß die Habichtsburg erbaut, im Aargau 1027 Kloster Muri als habsburgisches Eigenkloster. Ein anderer Sohn Lanzelins, Graf Rudolf, stiftet im Sundgau 1045 das Kloster Ottmarsheim, das unmittelbar dem Papst unterstellt und 1049 von Papst Leo IX. geweiht wird. Graf Otto II. († 1111) nennt sich erstmals nach der Habsburg – er besitzt die Landgrafschaft im Oberelsaß und die Vogtei über den bischöflich straßburgischen Mundat von Rufach. 1135 erscheinen die Habsburger als Inhaber der Vogtei über Kloster Murbach und seine reichen, bis an den Vierwaldstätter See sich erstreckenden Güter. Graf Albrecht III. (1167 bis 1200) ist mit der Tochter des letzten Grafen von Pfullendorf verheiratet. Kaiser Friedrich I., der das Pfullendorfer Erbe einzieht, entschädigt ihn 1173 mit dem westlich der Limmat gelegenen Teil der Grafschaft Zürich und der Vogtei über das Kloster Säckingen, die beide aus dem Erbe der 1172 ausgestorbenen Grafen von Lenzburg herrühren, und mit der Herrschaft Biedertal südwestlich von Basel. Möglicherweise fällt in diese Zeit auch der Erwerb der Grafschaft im Aargau, die ab 1239 fest in den Händen der Habsburger ist. Albrecht tritt auch als Untervogt der 1123 gegründeten Zisterzienserabtei Lützel auf. Aus der Hinterlassenschaft der Zähringer fällt den Habsburgern 1218 die Vogtei über Uri zu; sie geht dann 1231 an das Reich über. Die Enkel Albrechts III. bilden eigene Linien – Graf Rudolf lll. († 1249) wird der Stammvater der Laufenburger Linie, die 1415 erlischt; Graf Albrecht IV. († 1238/40 auf einem Kreuzzug) heiratet Heilwig, die Tochter des Grafen Ulrich von Kiburg, aus welcher Ehe 1218 Graf Rudolf IV., der nachmalige deutsche König, hervorgeht. 1238 teilen die beiden Linien den Besitz. Graf Albrecht IV. erhält die Habsburg, die oberelsässischen Besitzungen mit der Landgrafschaft, die Stadt Säckingen und die Vogtei über Muri und das säckingische Klostergut ohne Laufenburg. Graf Rudolf III. erhält Laufenburg und Besitzungen am Vierwaldstätter See, die durch den Freiheitsbrief Kaiser Friedrichs II. an die Leute von Schwyz (1240) erheblich verkleinert werden. Die Vogtei über Murbach bleibt zunächst gemeinschaftlicher Besitz, erscheint aber später ganz in der Hand der älteren Linie.
Graf Rudolf IV. führt die stauferfreundliche Politik der Habsburger weiter und erreicht von König Konrad IV. die Verpfändung der Städte Breisach und [S. 273:] Kaysersberg sowie die Anwartschaft auf die Stadt Rheinfelden und die Vogtei über St. Blasien. Wegen Breisachs und Kaysersbergs gerät er mit den Bischöfen von Basel und Straßburg in Streit. 1261 gibt er sein Bündnis mit dem Bischof von Straßburg auf und tritt auf die Seite der Stadt Straßburg. Durch Überfälle gewinnt er 1261 Kolmar, 1262 Mülhausen. Beim Aussterben der älteren und jüngeren Grafen von Kiburg (1262/64) bringt der Anfall des Erbes bedeutenden Besitzzuwachs in der späteren Schweiz, verwickelt Rudolf IV. aber auch in zahlreiche Auseinandersetzungen und Fehden, u. a. mit dem Abt von St. Gallen, dem Bischof von Konstanz und dem Grafen von Savoyen. Eine 1268 beginnende neue Fehde mit dem Bistum Basel wegen Breisachs und Rheinfeldens dauert bis zu Rudolfs Erhebung zum König. Um sich der Neutralität des Bischofs von Straßburg in dieser Fehde zu versichern, verzichtet er 1269 auf die Vogtei über den Mundat von Rufach. Bei seiner Wahl zum König ist er der mächtigste Territorialherr im Südwesten des Reichs; indessen sind der schweizerische und der sundgauische Teil seines Territoriums räumlich voneinander getrennt.


Vorderösterreich – Die Schweiz

Der Untergang der Staufer, Mitte des 13. Jhs., gibt den Territorialherren Raum, ihre Herrschaftsbereiche auszudehnen und zu verdichten. Vor allem die Habsburger verstehen die Gunst der Stunde zu nutzen: sie werfen sich zur Vormacht in den südlichen Oberrheinlanden auf und behaupten diese Stellung bis zum Untergang des alten Reiches, dessen Krone sie zuerst unter Rudolf von Habsburg, dann dauernd seit Albrecht II. tragen. Neben ihnen, vor allem in den nördlichen Oberrheinlanden, können sich nur kleinere Territorialherren entwickeln, die kein Gegengewicht gegen sie bilden. Zum König erhoben, verzichtet Rudolf von Habsburg vielfach darauf, sein Hausgut zu vergrößern, und begnügt sich mit einem reichsrechtlichen Besitztitel. In Übereinstimmung mit der Politik der Revindikation entfremdeten Reichsguts erhalten die während des Interregnums von ihm besetzten Städte Mülhausen, Kolmar, Kaysersberg, Schaffhausen und Pfullendorf den Status von Reichsstädten. Auch das durch die Schlacht von Hausbergen (1262) vom Bischof frei gewordene Straßburg und das nach der Abdrängung des Bischofs in den Jura weitgehend selbständige Basel werden als Reichsstädte betrachtet. Der Versuch, nach dem Untergang Konradins das Herzogtum Schwaben als ein habsburgisches Herzogtum wiederzubeleben, mißlingt.

[…]

[S. 274:] Ebenso erfolgreich sind die Habsburger im Sundgau und Breisgau. Dort wird 1325 Herzog Albrecht II. vom Bischof von Basel mit der Grafschaft Pfirt belehnt. Hier beherrschen die Habsburger bereits 1254 durch den Erwerb der Vogtei über St. Blasien den südlichen Schwarzwald.

[…]

[S. 276:] Eine gemeinsame Bezeichnung für die österreichischen Besitzungen am Oberrhein kommt nur allmählich auf. Aus der 1396 erstmals verwendeten Bezeichnung „Lande enhalp (jenseits) des Arls“ entwickelt sich in den letzten Regierungsjahren Erzherzog Sigismunds die Unterscheidung der „inneren Lande“ (Tirol) und der „vorderen Lande“ (vom Arlberg bis zum Elsaß. Unter Maximilian wird die Benennung „vordere Lande Elsaß, Sundgau, Breisgau und Schwarzwald“ üblich, die bereits 1515/26 von dem österreichischen „Land zu Schwaben“ unterschieden werden. Im 17. Jh. drängt schließlich der Name Vorderösterreich die Bezeichnung Vorlande zurück.
Ebenso allmählich entsteht die Verwaltungsorganisation dieser Vorlande. 1367 wird Hennemann von Ratolsdorf als Landvogt im Elsaß und Breisgau bestellt. 1409 amtieren nebeneinander ein Landvogt im Elsaß und Sundgau und ein Landvogt im Breisgau und Aargau, aber seit 1432 wieder nur ein Landvogt für Elsaß, Sundgau, Breisgau und die Waldstätte auf dem Schwarzwald. Nach dem Erwerb der Vorlande bestätigt Kaiser Maximilian den Kaspar von Mörsberg als Obristen Hauptmann und Landvogt im Elsaß und Breisgau; ihm stehen sieben Räte zur Seite, die 1506 als „Regiment zu Ensisheim“ erscheinen. Unter den Ständen steht 1468 der Stand der Herren, Ritter und Knechte noch an erster Stelle vor der aus Abteien, Klöstern. Stiften und Kommenden zusammengesetzten Prälatenkurie und den Vertreten der Städte, Ämter und Herrschaften. Die drei Stände tagen getrennt, die Teilnahme an den Landtagen ist in das Belieben des einzelnen Standesgliedes gestellt. als bevorzugter Tagungsort erscheint anfänglich Neuenburg (am Rhein), später der Regierungssitz Ensisheim.
[S. 277:] Unter dem Schutz des Kaiserhauses erlebt Vorderösterreich eine von Kriegen nahezu ungetrübte Entwicklung, abgesehen von den Bauernunruhen. 1493 ruft der ehemalige Bürgermeister von Schlettstadt, Hans Ulmann, in der Umgegend dieser Stadt die ersten Bauernunruhen hervor; er wird in Basel hingerichtet. Schließlich erheben sich 1524 die Bauern in der zum Klettgau gehörenden Landgrafschaft Stühlingen. Der Aufstand breitet sich unter Führung des Hans Müller von Bulgenbach im Schwarzwald, am Bodensee und im Elsaß aus. […] Im Oberelsaß, wo der aus Württemberg vertriebene Herzog Ulrich den Bauernaufstand unterstützt, nehmen die Bauern Belfort ein. Im Unterelsaß greift der Aufstand von der Landvogtei Hagenau aus auf die benachbarten Territorien auch der Pfalz über, bis Herzog Anton von Lothringen die Bauernhaufen bei Zabern vernichtend schlägt (1525). […]
Erst der Dreißigjährige Krieg bringt wieder Kriegsnöte. Nachdem 1631 die Schweden in den Breisgau und das obere Elsaß eingedrungen und 1634 nach der Schlacht bei Nördlingen wieder vertrieben worden sind, gelingt es 1638 Bernhard von Weimar, der in französischem Solde steht, den größten Teil Vorderösterreichs mit der Stadt Breisach zu unterwerfen. Es wird auch nach seinem Tode von den Franzosen beherrscht, und die Ensisheimer Regierung befindet sich, bereits seit 1631, auf der Flucht.
Im Westfälischen Frieden 1648 müssen dann Reich und Österreich auf dem rechten Rheinufer Breisach, auf dem linken den Sundgau, die Landgrafschaft des oberen und des unteren Elsaß, die Landvogtei über die zehn Reichsstädte von Kolmar bis Landau an Frankreich abtreten. Es baut dann seine Stellung im Elsaß bis zur gänzlichen Abtrennung vom Reich aus – 1681 wird Straßburg besetzt.

[…]


[S. 278:] Reichsstädte – Reichsritterschaft

Über den territorialen Bereich hinaus reicht die Interessensphäre der Habsburger; zu ihr rechnen die Reichsinstitutionen, zumal nachdem die Habsburger zuerst 1273, dann seit 1438 die Königs- bzw. Kaiserkrone erlangen. Für die Revindikation und Verwaltung des Reichsgutes richtet König Rudolf im Oberrheingebiet die Reichslandvogteien Zürich, Wimpfen, Oberelsaß, Niederelsaß und Speyergau ein. Den Reichslandvögten unterstehen auch die Reichsstädte ihres Gebietes. Noch zu Lebzeiten Rudolfs von Habsburg werden die Reichslandvogteien für das Ober- und Unterelsaß in Hagenau zusammengelegt und für das rechtsrheinische Reichsgut die Reichslandvogtei Ortenau begründet. Ihre Bedeutung schwindet freilich bereits unter Ludwig dem Bayern, als die Verpfändung des Amts üblich wird.
Die nach dem Untergang der Staufer zunächst recht bedeutende Zahl der Reichsstädte geht infolge Unterwerfung durch benachbarte Herren, mehr noch durch Verpfändung seitens des Königs, besonders Ludwigs des Bayern, dauernd zurück. Unter den Reichsstädten verstehen am besten die elsässischen ihre Reichsunmittelbarkeit zu erhalten. 1338 erklären Kolmar, Hagenau, Schlettstadt, Ehnheim, Rosheim, Mülhausen, Kaysersberg, Münster und Türkheim ihren Beitritt zu der von den Kurfürsten zu Rhens (Rense) geschlossenen Einung. 1354 bildet sich der gleiche Bund, dem sich auch Weißenburg anschließt. Dies ist die unter Leitung des Reichslandvogts stehende Elsässer „Dekapolis“, der 1511 Landau beitritt, während Mülhausen 1515 wegen seines Anschlusses an die Eidgenossenschaft ausscheidet.

[…]

[S. 279:] Unterelsässische Reichsritterschaft. Im Unterelsaß bestehen seit 1422 lockere Vereinigungen der Reichsritter. Erst im Kampf gegen den „gemeinen Pfennig“ nach 1495 organisieren sie sich in festerer Form. Aus einem Ausschuß vom Jahr 1547 entwickelt sich das Direktorium der immatrikulierten Ritterschaft, die auf Rittertagen in Straßburg zusammenkommt. 1651 schließt sie sich enger an die Ritterschaft im übrigen Reich an, zu dieser Zeit verfügt sie über rund 80 Besitzungen.


Bistümer, Klöster, Ritterorden

In kirchlicher Hinsicht gehören die Oberrheinlande zu den Bistümern Basel, Konstanz, Straßburg und Speyer. Davon bilden Basel und Straßburg ihre Territorien innerhalb der Oberrheinlande aus, während das Konstanzer Territorium, am Bodensee gelegen, zum schwäbischen, Speyer zum pfälzischen Raum rechnet.
Das Bistum Basel gelangt 1033 mit dem Königreich (Hoch-)Burgund, zu dem es gehört, an das Reich. Bereits Heinrich II. stattet es mit Wildbännen im Sundgau und Breisgau aus und gibt ihm die Klöster St. Blasien und Sulzburg. Von Heinrich III. erhält es die im Sisgau gelegene Grafschaft Augst und von Heinrich IV. die Grafschaft Herkingen (1080), so daß die Paßstraße über den Hauenstein ganz in bischöfliche Gewalt kommt. Dazu erwirbt der Bischof 1163 die Herrschaft Rappoltstein im Elsaß. Doch lassen sich diese weiteren Rechte und Güter nicht festhalten. Bischof Heinrich von Thun (1216 [S. 280:] bis 1238) bringt seine landesherrliche Macht namentlich der Stadt Basel gegenüber wieder zur Geltung. Doch entzieht sich ihr die Stadt noch im selben Jahrhundert, wird freie Reichsstadt und schließt sich 1501, wenngleich widerstrebend, der Eidgenossenschaft an. Bischof Heinrich III. (1262–1273) treibt eine ausgreifende Territorialpolitik, erwirbt Rheinfelden, Breisach, die Oberlehnsherrschaft über die Grafschaft Pfirt, befestigt Klein-Basel. Aber er muß sich des Zugriffs Rudolfs von Habsburg erwehren, der Basel belagert; zum König gewählt, bricht dieser die Belagerung ab. Das Bistum entwickelt sein Territorium in südwestlicher Richtung, wo Pruntrut, die zweite Residenz der Fürstbischöfe, vor allem seit der Reformation, liegt. Auf dem rechten Rheinufer wird nur eine kleine Enklave, bei Neuenburg, festgehalten. Mehr und mehr scheiden Bistum und Stadt aus dem oberrheinischen Raum aus und treten in den schweizerischen über. Hier fällt das Bistum erst der großen Säkularisation 1792/1801 zum Opfer.
Das Bistum Straßburg bildet im gewissen Sinne das Gegenstück zum habsburgischen Oberelsaß – es ist im Unterelsaß das führende Territorium, was freilich bei der territorialen Zersplitterung weniger bedeutet. Der „obere Mundat“ von Rufach gehört zu den ältesten Besitzungen noch aus der Zeit der Merowinger; sonst stellt die weitere Umgebung Straßburgs zu beiden Seiten des Rheins den natürlichen Territorialbereich dar. Otto der Große bestätigt dem Bistum 974 die Zollfreiheit und verleiht ihm das Münzrecht. Otto II. bestätigt 982 die Stadtgerichtsbarkeit: Straßburg ist eine bischöfliche Stadt. Im 12. Jh. bringt das Bistum mit Zabern den wichtigen Übergang vom Elsaß nach Lothringen in seine Gewalt. Im 13. Jh. gelingt den Bischöfen Berthold I. von Teck( (1223–1244) und Heinrich III. von Stahleck (1244–1260) der eigentliche Ausbau des Territoriums. Schließlich breitet es sich, in Streulage, vornehmlich auf dem linken Rheinufer zwischen Rufach und Zabern und auf dem rechten zwischen Ettenheim und Oberkirch aus. 1358/59 gelingt noch der Erwerb der Landgrafschaft des Unterelsaß von den Grafen von Öttingen.
Der Territorialbereich hat eine empfindliche Lücke: die Stadt Straßburg. Sie entzieht sich im 13. Jh. der bischöflichen Herrschaft, die Bürger schlagen 1262 bei Hausbergen Bischof Walter von Geroldseck. Zur Reichsstadt geworden, spielt Straßburg ebenso eine führende politische Rolle in den Oberrheinlanden, wie es einen hohen Rang in der deutschen Kunstgeschichte – das Langhaus des Münsters wird von der Bürgerschaft gleichsam als Denkmal ihres Sieges erbaut –, in der deutschen Geistesgeschichte, in der Reformation, der es sich frühzeitig 1523 anschließt, einnimmt. Seit 1552 von der französischen Ausdehnungspolitik bedroht, wird die Stadt 1681 von französischen Truppen besetzt und 1697 im Frieden von Rijswijk an Frankreich abgetreten. Auch im Hochstift breitet sich die Reformation aus; aber es bleibt bestehen, obschon 1592 die evangelischen Domherren in Markgraf Johann Georg von Brandenburg einen evangelischen Administrator wählen – im anschließenden „Kapitelstreit“ kann er sich nicht halten. Dann gerät das Bistum, während der Regierung der beiden Habsburger Leopold und Leopold Wilhelm (1598/1607 bis 1662), noch einmal unter österreichischen Einfluß, ehe Bischof Franz Egon von Fürstenberg (1663–1682) dem französischen Tür und Tor öffnet. Im Zuge [S. 281:] der Reunionen 1680 wird es. soweit linksrheinisch, der französischen Souveränität unterstellt. Nach Ausbruch der Revolution verlegt der Bischof seine Residenz nach Ettenheim, bis auch die rechtsrheinischen Reste im Reichsdeputationsausschuß 1803 säkularisiert werden und an Baden fallen.
Alte königliche Klöster und Stifte, die, bis in fränkisch-merowingische Zeit zurückreichend, später zum Reichsfürstenstande rechnen, gibt es vornehmlich im Elsaß und, im Süden anschließend, im Schweizer Mittelland. Im Elsaß führt das Nonnenkloster Hohenburg seinen Ursprung auf die hl. Odilia, die Tochter des Herzogs Eticho, zurück (8. Jh.) – daher seit dem 17. Jh. Odilienberg genannt. Es erlebt seine Blüte in der Zeit der Staufer, welche die Vogtei besitzen; damals (2. Hälfte des 12. Jhs.) ist Herrat Äbtissin. Sie ist die Verfasserin des „Hortus deliciarum“, einer Art Unterrichtsbuch für die Nonnen, das mit lateinischen Gedichten und Zeichnungen ausgestattet ist. Infolge der Reformation verfallen, wird das Kloster 1605/61 mit Prämonstratensern besetzt – es besteht bis zur Revolution.
Die Benediktinerabtei Murbach wird nicht nur von Pirmin, vor 727, gegründet, sondern erwirbt und hält auch ein ansehnliches Territorium fest. Im 8./9. Jh. ein geistlicher und kultureller Mittelpunkt, wo frühkarolingische Annalen geschrieben werden, setzt in der Mitte des 12. Jhs. eine Zeit des Verfalls ein. Vögte sind zwischen 1235 und 1259 die Habsburger – 1536 unterstellt sich die Abtei wieder habsburgischem Schutz. Von den französischen Reunionen 1680 erfaßt, wird sie noch 1764 in ein weltliches Ritterstift umgewandelt und fällt 1789 der allgemeinen Säkularisation zum Opfer. Noch zeugen die Reste der Klosterkirche, die zusammenfassende Gestaltung von Chor und Querschiff, 2. Hälfte des 12. Jhs., von der Bedeutung und Blüte im Mittelalter.

[…]


[S. 282:] Weltliche Territorien


Das Übergewicht der vorderösterreichischen Lande, die den ganzen Süden über den Rhein hinweg einnehmen, ist so groß, daß daneben keine anderen Territorien von einigem Gewicht aufkommen können. Auch der Aufstieg Badens hat zur Voraussetzung, daß sich Österreich vom Oberrhein zurückzieht.
Im Oberelsaß geht die Grafschaft Horburg, mit der seit 1291 die Herrschaft Reichenweier verbunden ist, 1324 durch Kauf an Graf Ulrich von Württemberg über. Graf Eberhard der Milde erwirbt 1398 die Grafschaft Mömpelgard (Montbéliard) von dem aussterbenden Grafenhaus, indem er seinen Sohn Eberhard den Jüngeren mit der Erbtochter des Geschlechtes, Henriette, verlobt. Württemberg wahrt diese Außenposten bis zur Französischen Revolution 1793/96.
Im Unterelsaß ist das größte weltliche Territorium die Herrschaft, seit 1458 Grafschaft Lichtenberg. Die Herren von Lichtenberg, doch einheimischen Ursprungs und nicht erst mit den Staufern in das Elsaß gekommen, sind seit 1230 im Besitz ihrer Stammburg Lichtenberg am Wasichen nachweisbar. Nach dem Untergang der Staufer schließen sie sich eng an das Bistum Straßburg an, von dem sie um 1249 die Vogtei über die Stadt Straßburg erhalten. Vom Bistum Metz werden sie mit Ingweiler und Buchsweiler belehnt, und im 14. Jh. erwerben sie weiteren Besitz (Neuweiler) durch Verpfändung. Aus Lichtenberger Geschlechte stammen im 13./14. Jh. drei Straßburger Bischöfe, darunter Konrad III. (1273–1299), berühmt als Förderer des Straßburger Münster- [S. 283:] baues. Unter König Albrecht I. sind die Lichtenberger als treue habsburgische Parteigänger vorübergehend Landgrafen des Unterelsaß. Die seit 1260/1330 bestehenden drei Linien des Geschlechts sichern 1361/62 durch Erbverträge die Einheit des Territoriums. 1405 befindet sich, nach Erlöschen der beiden älteren Linien, der ganze Besitz des Hauses in der Hand Ludwigs IV. (gest. 1434). 1480 wird die Herrschaft nach dem Erlöschen des Geschlechts unter die Schwiegersöhne des letzten Lichtenbergers, Graf Philipp von Hanau und Graf Simunt Wecker von Zweibrücken-Bitsch, geteilt. Als 1570 die Grafen von Zweibrücken aussterben, fällt Lichtenberg ganz an Hanau; seit der Zeit kommt die Bezeichnung Hanau-Lichtenberg auf. Hauptstadt des „Hanauer“ Landes ist Buchsweiler. Die Grafschaft wird 1680 mit Frankreich reuniert.


Günther Haselier: Die Oberrheinlande. Aus: Geschichte der deutschen Länder. Band 1: Die Territorien bis zum Ende des alten Reiches.
Hg. von Georg Wilhelm Sante, Freiburg und Würzburg 1964, S. 267–291 © PLOETZ in der Herder GmbH 1964.

Wiedergegeben sind nur die auf das Elsaß bezüglichen Teile des Textes.



Das Reichsland Elsaß-Lothringen 1871–1918



Elsaß-Lothringen kommt 1871 als Reichsland an das neue Deutsche Reich. Die „elsässische“ Frage" ist aber älter und hat eine wesentliche Voraussetzung in der Französischen Revolution. Das habsburgische Oberelsaß ist zwar 1648 an Frankreich gefallen, die Territorien des Unterelsaß sind durch die Reunionen Ludwigs XIV. unter französische Oberherrschaft gekommen, das Land selbst aber gilt als „province effectivement étrangère", in der das Leben unverändert weitergeht. Goethes Schilderung in „Dichtung und Wahrheit“ vermittelt ein anschauliches Bild davon. – In Lothringen wirkt sich der Zugriff Frankreichs unmittelbarer aus. Seine 1552 begonnene Aneignung der Städte und Bistümer Metz, Toul und Verdun wird 1648 anerkannt, 1735 gegen Zustimmung zur Pragmatischen Sanktion der Verzicht von Franz Stephan auf sein lothringisches Herzogtum erreicht. Ungeachtet dieses politischen Wechsels bewahrt das rein bäuerliche deutschsprachige Lothringen auch weiterhin seine angestammte Art.

Der Sturm der Französischen Revolution fegt schlagartig hinweg, was sich im Elsaß und an der mittleren Saar noch an deutschen Standesherrschaften und Einrichtungen erhalten hat, und fügt die beiden Landschaften fest in die „eine und unteilbare Republik" ein. Ein neues Staatsgefühl entsteht in ihnen aber erst, als Napoleon I. dem revolutionären Chaos ein Ende setzt, mit der Kirche Frieden schließt und durch seine siegreichen Feldzüge den Ruhm der Nation hell erstrahlen läßt. Nach seinem Sturz wird in Deutschland der Ruf laut, die dem Reich entrissenen beiden Landschaften zurückzunehmen, doch bietet weder der Deutsche Bund die Möglichkeit einer staatsrechtlichen Rückgliederung, noch ist der Widerstand der Großmächte gegen diese Lösung überwindbar. So können Elsaß und Lothringen in den nun folgenden Jahrzehnten in den französischen Staat hineinwachsen, kann sich in der Bevölkerung eine französische Staatsgesinnung entwickeln. Getragen wird dieser Vorgang von der bürgerlichen Oberschicht, der Bourgeoisie, die nach der Zerschlagung des Adels als Stand und nach der Entmachtung des Klerus durch die Zivilkonstitution (Constitution civile du Clergé) und das Konkordat von 1801 zum tragenden Fundament des französischen Staates erstarkt und sich dessen uneingeschränkter Gunst erfreut. In diesem Staat hält sie das freiheitliche Erbe der Revolution für gewahrt und einen steten geistigen und wirtschaftlichen Fortschritt für gesichert. Die Übernahme französischer Sprache und Lebensform ergibt sich für die Angehörigen dieses Standes fast zwangsläufig. Die breite Schicht des Kleinbürger- und Bauerntums dagegen hält an der überkommenen Sprache und Art fest, fühlt sich aber auch als Bürger des französischen Staates, und die von den Veteranen getragene Erinnerung an den militärischen Ruhm Napoleons I. gibt diesem Gefühl einen lebendigen Inhalt. Als aber Napoleon III. in den 60er Jahren über den Volksschulunterricht den Gebrauch der deutschen Sprache beseitigen will, leistet diese breite Volksschicht unter Führung der Geistlichen beider Konfessionen nachhaltigen und erfolgreichen Widerstand. Auf die Dauer ist jedoch nicht daran zu zweifeln, daß der französische Einheitsstaat die schon von den Jakobinern erhobene Forderung der Einheit der „Sprache eines freien Volkes“ – Deutsche war nach [S. 642:] ihrer Meinung die eines versklavten Volkes – durchzusetzen entschlossen ist. Bevor dieser Versuch wiederholt werden kann, tritt die Wende von 1870 ein.

Die Rückgewinnung der beiden dem alten Deutschen Reich entrissenen Grenzlandschaften ist eine Forderung des deutschen Volkes, als Frankreich am 19. Juli 1870 den Krieg erklärt hat. Auch für Bismarck ist sie bei siegreichem Abschluß des Kriegs eine Selbstverständlichkeit: er muß für Deutschland den Frieden sichern, muß sein Kriegsziel, die Einigung Deutschlands, möglich machen, indem er die Gefährdung Süddeutschlands vom Oberrhein, von Straßburg her beseitigt. Dabei hätte er sich am liebsten auf deutschsprachiges Gebiet beschränkt, doch kann er sich bei der im französischen Sprachgebiet liegenden Festung Metz den Forderungen des Militärs nicht entziehen und setzt ihre Abtretung schon in den Präliminarien durch.


Die Jahre 1871–1911

In Art. 1 des Präliminarfriedens von Versailles vom 26. Februar 1871 verzichtet Frankreich zugunsten des Deutschen Reichs auf seine Rechte und Ansprüche auf die Gebiete der Departements Oberrhein – ausschließlich des Festungsrayons von Belfort –, Niederrhein und auf einen aus Teilen der Departements Mosel und Meurthe zusammengesetzten Bezirk Deutschlothringen. Trotz des leidenschaftlichen Protestes der elsässischen und lothringischen Abgeordneten werden die Bestimmungen des Präliminarfriedens von der französischen Nationalversammlung in Bordeaux mit 546 gegen 107 Stimmen gebilligt. Durch Austausch der Ratifikationsurkunden am 2. März 1871 wird das Gebiet völkerrechtlich mit dem Deutschen Reich vereinigt. Der Frankfurter Friede vom 10. Mai 1871 bestätigt diese Gebietsabtretung mit nur zwei Abweichungen: Der Bereich um die Festung Belfort, die bei Frankreich verblieben ist, wird erheblich erweitert und dafür Deutschland, wenn auch in geringerem Maße, ein Gebiet westlich von Diedenhofen abgetreten.
Durch das Reichsgesetz vom 9. Juni 1871 werden Elsaß und Lothringen mit einer Fläche von 14 511 qkm und 1 549 738 Einwohnern (nach der Zählung vom Dezember 1871) auch staatsrechtlich ein Bestandteil des Deutschen Reiches.

Als der Präliminarvertrag abgeschlossen wird, hat Bismarck das Schicksal beider Grenzlandschaften schon eng mit dem werdenden Deutschen Reich verknüpft; er hat die preußische Lösung, d. h. ihre Angliederung an die deutsche Vormacht, und damit jegliche dynastische Lösung abgelehnt. Er gliedert Elsaß und Lothringen dem Reich als Gemeinbesitz aller seiner Glieder, als „Reichsland“, ein und erhofft sich davon eine bindende Wirkung auf den jungen staatlichen Organismus. Bei dem bundesstaatlichen Charakter des Reichs hätte die staatsrechtliche Form der Einordnung auch besondere Schwierigkeiten geboten. Deswegen entscheidet sich Bismarck bewußt für die reichsländische Lösung als einen Versuch, „den richtigen Anfang einer Bahn zu finden, über deren Ende wir selbst noch der Belehrung durch die Entwicklung, durch die Erfahrungen, die wir machen werden, bedürftig sind“. Das Vereinigungsgesetz vom 9. Juni 1871 stellt demnach in § 1 nur fest, daß die abgetretenen Gebiete [S. 643:] Elsaß und Lothringen „mit dem Deutschen Reiche“ vereinigt werden und daß lt. § 3 der Kaiser als Organ darin die Staatsgewalt ausübt; seine Anordnungen und Verfügungen bedürfen der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, der dadurch die Verantwortung übernimmt. Diese als „Diktatur des Kaisers“ bezeichnete Zeit endet mit der Einführung der Reichsverfassung am 1. Januar 1874. Seitdem ist in Elsaß-Lothringen die Reichsgesetzgebung maßgebend.

Durch das Vereinigungsgesetz werden die beiden Gebiete, die im alten Reich schon seit Jahrhunderten nebeneinander, aber ohne tiefere Beziehungen zueinander bestanden, zu einer neuen staatsrechtlichen Einheit zusammengefaßt – das Elsaß im wesentlichen in seinem geschichtlichen Umfang, während der im Gesetz mit „Lothringen“ bezeichnete Bezirk nur das nordöstliche Viertel des eigentlichen lothringischen Raumes umfaßt. Auch ihrer Art nach sind die beiden Landschaften sehr verschieden: Das fast rein deutschsprachige Elsaß ist ein Teil der großen rheinischen Durchgangslandschaft, ist reich an Städten und besitzt seit je in Straßburg einen bedeutenden geistigen und wirtschaftlichen Mittelpunkt. In dem zum Reichsland gehörigen Bezirk Lothringen beträgt das im Südwesten gelegene französische Sprachgebiet fast 29 % mit Metz: als städtischem Zentrum; es ist wie das deutschsprachige Lothringen rein agrarisch, vom Moseltal abgesehen ohne Durchgangsverkehr und daher städtearm. Trotz dieser Verschiedenheit wachsen die beiden Gebiete unter einer gemeinsamen Verwaltung und unter gleichen politischen Bedingungen bald zu einer immer fester werdenden Einheit zusammen, die sich rechtlich auch über 1918 hinaus bis heute erhalten hat.

Am 6. September 1871 wird Eduard von Möller, seit 1866 bestens bewährt in einer ähnlichen Aufgabe, der Umgestaltung Kurhessens in eine preußische Provinz, als Oberpräsident mit der inneren Verwaltung des Reichslandes betraut, deren Organisation in dem unter seiner Mitwirkung entstandenen Reichsgesetz vom 30. Dezember 1871 festgelegt wird; der Oberpräsident untersteht unmittelbar dem Reichskanzler, amtiert aber in Straßburg. Er bestätigt seinen Ruf als hervorragender Beamter, baut in selbstloser Arbeit eine zuverlässige Verwaltung auf und legt auf vielen Teilgebieten die Fundamente für die weitere Zukunft des Reichslands. Von Möller erkennt klar, daß dieses in seinen Anfängen noch „kein Staat, wohl aber ein staatsähnliches Wesen“ ist, dessen Übergang in das Reich zu erleichtern und dessen Eigenleben zu stärken ist. Dem ersteren zu dienen, wird die deutsche Verwaltung auf der Grundlage der bisherigen französischen eingerichtet. Auch die in Kraft befindlichen französischen Gesetze, mit Ausnahme der Bestimmungen über die Staatsgewalt, die Gesetzgebung und die Zentralbehörden, bleiben in Geltung. Neue Landesgesetze werden vom Kaiser unter Zustimmung des Bundesrats erlassen, bis das Gesetz betr. die Verfassung und Verwaltung Elsaß-Lothringens vom 4. Juli 1879 eine Neuregelung trifft (s. S. 645). Als Behörden der inneren Verwaltung übernehmen die Präsidenten der drei Bezirke Oberelsaß, Unterelsaß und Lothringen die allerdings eingeschränkten Funktionen der französischen Präfekten. Ihnen nachgeordnet sind die Direktoren der Kreise, deren Anzahl in Hinblick auf eine Dezentralisation der Verwaltung vermehrt wird. – Auch in der Kultusverwaltung ist der Wille, an den bestehenden kirchlichen Verhältnissen nichts zu ändern, sofort erkennbar. Das Konkordat [S. 644:] von 1801 und die dazugehörigen Organischen Artikel werden durch konkludente Handlungen als weiterhin zu Recht bestehend anerkannt. Dazu gehören vor allem die in Art. 6 des Friedensvertrags vorgesehene, aber vom Heiligen Stuhl vorzunehmende neue Abgrenzung der Bistümer Straßburg und Metz und deren Exemtion aus der Erzdiözese Besançon im Juli 1874. Auch die durch die Organischen Artikel geregelte Verfassung der beiden protestantischen Kirchen bleibt unangetastet.

Diese ganze Neuordnung vollzieht sich unter schwierigsten Verhältnissen im neu gewonnenen Grenzland, dessen Bevölkerung weithin den Übergang ihrer Heimat an Deutschland ablehnt, weil sie sich in den Jahrzehnten seit der Revolution in den französischen Staat eingelebt hat. Erste Ansätze elsässischer Politiker, durch Anerkennung der neuen staatsrechtlichen Verhältnisse günstige Möglichkeiten zu erreichen, werden schnell erstickt durch die Propaganda der „Ligue d‘Alsace“, die geheimbundartig organisiert ist und von den Gesinnungsfreunden Léon Gambettas in Frankreich unterstützt wird, die, leidenschaflich gegen alles Deutsche eingenommen, jeden Einheimischen, der die Wirklichkeit anerkennen will, als Verräter verleumdet. Vor allem befürwortet sie unablässig, von dem in Art. 2 des Friedensvertrags vorgesehenen Recht der Option für Frankreich Gebrauch zu machen. Bis zum Stichtag am 1. Oktober 1872 werden auch 58 419, auf 160 878 Personen sich beziehende Erklärungen abgegeben; aber nur 49 926 Personen wandern tatsächlich aus – immerhin genug, um vor allem die Oberschicht und die geistigen Berufe zu dezimieren. Das Ziel der „Ligue d‘Alsace“, durch eine Massenauswanderung möglichst viele Funktionen in Elsaß-Lothringen zum Erliegen zu bringen oder zu stören, wird aber nicht erreicht, sondern nur die Heranziehung geeigneter Fachleute aus dem Reich beschleunigt. Diese Art von Propaganda vergiftet auf Jahre hinaus das Zusammenleben zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Folge der Option ist eine Unzahl verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Beziehungen über die Grenze nach Frankreich hin, die gerade in Zeiten politischer Spannung im Reichsland sich auswirken und zu störenden Vorkommnissen führen. Das Reichsland wird zum Barometer der politischen Lage, wie sie sich zwischen Deutschland und Frankreich gestaltet.

Die ersten Reichstagswahlen vom Februar 1874, in denen nur Protestler zu Abgeordneten bestellt werden, und der in der ersten Sitzung des Reichstags verlesene Protest gegen die Annexion Elsaß-Lothringens sind Ausdruck dieser Haltung, mag er auch durch die anschließende Erklärung des ebenfalls zum Abgeordneten gewählten Straßburger Bischofs Andreas Raess, er und seine Religionsgenossen stellten den Frankfurter Frieden nicht in Frage, wenigstens nach außen hin neutralisiert werden. Daneben zeigen sich aber auch Ansätze zu sachlicher Mitarbeit unter Anerkennung der Gegebenheiten: in den 1874 eingesetzten, aus indirekten Wahlen hervorgehenden Landesausschuß mit beratenden Funktionen werden von den drei Bezirkstagen nur gemäßigte Mitglieder gewählt, und seit 1875 formiert sich im Elsaß die Autonomistenpartei, die bei den Reichstagswahlen von 1877 fünf Sitze, d. h. ein Drittel, gewinnt und die im Reichstag den Antrag stellt, „daß Elsaß-Lothringen eine selbständige, im Lande befindliche Regierung erhalte“. Darauf hat Oberpräsident von Möller von Anfang an hingearbeitet und ist deswegen oft in Gegensatz zu [S. 645:] Bismarck und der elsaß-lothringischen Abteilung im Reichskanzleramt geraten. Er wird abberufen, als seine Forderung im Reichsgesetz über die Verfassung und Verwaltung großenteils verwirklicht wird (4. Juli 1879).

Die wichtigsten Bestimmungen sind: der Kaiser kann ihm zustehende landesherrliche Befugnisse auf einen in Straßburg residierenden Statthalter übertragen, auf den auch die dem Reichskanzler in elsaß-lothringischen Landesangelegenheiten zustehenden Befugnisse und Obliegenheiten übergehen. Anstelle des Reichskanzleramts für Elsaß-Lothringen und des Oberpräsidenten wird ein in drei Abteilungen gegliedertes Ministerium für Elsaß-Lothringen mit Sitz in Straßburg und unter Leitung eines Staatssekretärs errichtet. Der Landesauschuß, der schon durch Reichgesetz vom 2. Mai 1877 in die Landesgesetzgebung eingeschaltet wurde, erhält neben dem Haushaltsrecht jetzt auch das Vorschlagsrecht für Landesgesetze, die, wie bisher, unter Zustimmung des Bundesrats vom Kaiser erlassen werden. Die Reichsgewalt ist also nach wie vor bestimmend im Reichsland. Trotzdem ist dieses Gesetz eine wichtige Etappe zur Autonomie des Reichslandes und zu einer Gleichstellung mit den übrigen Bundesstaaten.

Am 1. Oktober 1879 tritt Generalfeldmarschall Edwin von Manteuffel sein Amt als erster kaiserlicher Statthalter in Straßburg an : ein hervorragender Offizier, in diplomatischen Missionen erprobt, Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle, Freund des Kaisers – damit scheinen alle Voraussetzungen für eine glückliche Lösung seiner schwierigen Aufgabe gegeben. In Elsaß-Lothringen empfiehlt ihn die Anerkennung, die er in Frankreich als Oberbefehlshaber der deutschen Okkupationstruppen (1871–1873) gefunden hat, und er kommt mit dem Auftrag und Wunsch, Wunden zu heilen, nicht neue zu schlagen. Sein politisches Ziel ist die Selbständigkeit und Gleichberechtigung Elsaß-Lothringens mit den andern Ländern des Reichs. Wie ein Landesvater steht er dem einfachen Volk mit Rat und Tat zur Seite; bewußt pflegt er die Beziehungen zur katholischen Kirche und zum Großbürgertum, den Notabeln. Sein Bemühen um diese völlig verwelschte (d. h. französisierte) Oberschicht wird ihm von der deutschen Beamtenschaft im Reichsland und von der liberalen Presse angekreidet – nicht ganz zu Recht, denn bei der politischen Organisation des Reichslandes ist seine Bevölkerung nur durch den aus indirekten Wahlen hervorgegangenen und ausschließlich aus Notabeln zusammengesetzten Landesauschuß vertreten. An ihnen kann der Statthalter nicht vorbeigehen; seine Versuche, die Vertreter dieser Oberschicht für die Anerkennung der Zugehörigkeit Elsaß-Lothringens zum Deutschen Reich zu gewinnen, bleiben allerdings vergeblich. Die Reichstagswahlen von 1881 und 1884 beweisen, daß die Wähler nur den Weisungen der Notabeln und den Parolen der Optanten jenseits der Grenze folgen. Es werden nur Klerikale und Protestler gewählt; die Autonomisten kommen nicht mehr zum Zuge, geschweige denn deutsche Kandidaten. Enttäuscht, daß er seinem politischen Ziel nicht näher gekommen ist – es ist ist in jenen Jahren noch unerreichbar –, stirbt Manteuffel im Sommer 1885.

Am 11. Oktober des gleichen Jahres folgt ihm Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst im Amt, für das er kluge Sachlichkeit und große Erfah- [S. 646:] rung in Verwaltung und Diplomatie – 1874–1885 war er deutscher Botschafter in Paris – mitbringt. Die patriarchalische Art und das ungestüme Temperament seines Vorgängers sind ihm fremd. Ganz nüchtern stellt er fest, daß eine gute Verwaltung das beste Programm sei, und handelt danach. Bald bekommt er aber die Rückwirkungen der Vorgänge in Frankreich, wo General Georges Boulanger offen zum Krieg gegen Deutschland hetzt, auf das Reichsland zu spüren. Die Septennatswahlen vom Februar 1887, im Reich ein großer Erfolg für Bismarck, stellen im Reichsland wieder die bisherigen protestlerischen Abgeordneten heraus, weil man sich – nach der Meinung Hohenlohes – gerade in der drohenden Kriegsgefahr nicht vor Frankreich kompromittieren will. Eine Reihe scharfer Maßnahmen ist die Folge, so das Verbot zahlreicher Turn- und Musikvereine, Ansatzpunkte der französischen Propaganda, und im Mai 1888 die Einführung des Paßzwangs, der vor allem die in Frankreich lebenden Optanten trifft. Der auf Ausgleich bedachten Natur Hohenlohes liegen diese Zwangsmaßnahmen wenig, und er braucht sie auch nicht fortzusetzen, da die Entwicklung nach 1887 in ruhigere Bahnen lenkt. Die Wahlen von 1890 und 1893 beseitigen den Protest aus den Reihen der reichsländischen Abgeordneten, und im Land zeitigt eine ruhige und zuverlässige Verwaltungstätigkeit ihre Erfolge.

Als Hohenlohe im Oktober 1894 zum deutschen Reichskanzler ernannt wird, folgt sein Vetter Fürst Hermann zu Hohenlohe-Langenburg als Statthalter. In militärischer Laufbahn groß geworden und mit parlamentarischen Erfahrungen in Stuttgart und Berlin, verfügt er über die Voraussetzungen für dieses Amt, dessen repräsentative Seite er, seiner Grenzen bewußt, bevorzugt. Das kann er sich leisten, da er, begünstigt durch die außenpolitische Ruhe, die Früchte der Regierung seines Vorgängers ernten darf. Maßgebend sind die Staatssekretäre – bis 1901 Maximilian von Puttkamer, anschließend Ernst Matthias von Köller. Indessen wird in dieser Zeit nur verwaltet, nicht das politisch Notwendige gestaltet und durchgesetzt. Als bemerkenswerte Fortschritte sind zu nennen: die neue Gemeindeordnung von 1895, das Reichspressegesetz 1898, der erste Abschnitt der dringend notwendigen Steuerreform in den Jahren 1895–1901, die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs am 1. Januar 1900 gleichzeitig wie im ganzen Reich anstelle des bisher beibehaltenen Code Napoleon und endlich 1902 die Aufhebung des sog. Diktaturparagraphen – § 10 des Gesetzes vom 30. Dezember 1871, der „bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ dem Oberpräsidenten besondere Vollmachten verleiht –, der zunehmend als Diskriminierung empfunden worden ist.
Allein damit gibt sich die inzwischen ins politische Leben getretene junge Generation nicht zufrieden. Sie hängt nicht mehr einer ihr fremden Vergangenheit nach, sondern kümmert sich um die Gegenwart, in der ihr die Minderberechtigung ihrer Heimat im Deutschen Reich ein Stein des Anstoßes ist. Im Landesausschuß – nach der Formulierung des Abgeordneten Emile Wetterlé „die ironische Seite einer Volksvertretung“ – wird zwar von Zeit zu Zeit die Forderung nach Gleichstellung des Reichslandes mit den übrigen Bundesstaaten erhoben, aber letztlich ist die Körperschaft und ebenso die Regierung und Beamtenschaft des Reichslands mit der bequemen bestehenden Ordnung [S. 647:] nicht unzufrieden und scheut den frischen Wind, der sich bei einer Neuordnung zwangsläufig erheben muß. Gleicherweise fehlt im Reichstag die Kenntnis der Verhältnisse im Reichsland und damit das Verständnis für die Notwendigkeit einer politischen Weiterentwicklung. Dabei hätten die Jahre um die Jahrhundertwende, in denen Frankreich seinen Ruf als Vorbild einer Demokratie durch die Dreyfus-Affäre, den Panamaskandal und die Trennung von Staat und Kirche in Elsaß-Lothringen verliert, die denkbar beste Voraussetzung dafür geboten. Die Verantwortlichen lassen diese Möglichkeiten ungenutzt verstreichen.

Das ändert sich grundlegend, als Graf Karl von Wedel am 1. November 1907 die Statthalterschaft in Straßburg übernimmt. Als Hannoveraner, der 1866 noch gegen Preußen gefochten, dann aber dessen Führung bei der Einigung Deutschlands anerkannt hat und in preußische Dienste getreten ist, hat er aus eigener Erfahrung Verständnis für die Schwierigkeiten staatlichen Umdenkens, also auch für die gleichen Probleme in seinem neuen Amtsbereich in dem sich nach Jahren ruhiger Entwicklung neue Widerstände bemerkbar machen. – Einmal handelt es sich um die Auswirkung der verstärkt einsetzenden Propaganda, deren Ursprung die im Marokkokonflikt erneut erwachte Abneigung gegen Deutschland ist, daneben, aus entgegengesetzter Ursache herrührend, um den Unmut der jungen Generation, „aber nicht deshalb, weil wir nicht Deutsche sein wollen, sondern weil man uns nicht Deutsche sein lassen will“ (Karl Hauß), d. h., weil der jungen Generation das für alle Deutschen gleiche Recht vorenthalten wird. Von Wedel erkennt als erster von den Statthaltern, daß es höchste Zeit ist, diesen Schaden abzustellen und den von Bismarck eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Seit 1908 setzt er sich bei der Reichsregierung für eine neue Verfassung des Reichslandes und für einen aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Landtag ein, da nur auf diese Weise die Notabeln auszuschalten und Vertreter der gutwilligen Wählerschaft zu sachlicher politischer Mitarbeit zu gewinnen sind. Im Zusammenspiel zwischen ihm, dem es vor allem gelingt, Kaiser Wilhelm II. zu überzeugen, dem Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg und dem Reichstag vorabschiedet dieser die neue Verfassung für Elsaß-Lothringen, die der Kaiser vier Tage später unterzeichnet (27. Mai 1911).

Ihre wichtigsten Bestimmungen sind: Elsaß-Lothringen bleibt weiterhin Reichsland, in dem der Kaiser als Beauftragter des Reichs die Staatsgewalt ausübt. Die Landesgesetzgebung einschließlich des Etatrechts wird unter Ausschaltung des Reichstags und Bundesrats dem Landtag übertragen. Dieser setzt sich aus zwei Kammern zusammen, deren erste zur Hälfte aus den Vertretern der Kirchen, der Städte. der Universität usw. besteht. während die andere Hälfte vom Kaiser ernannt wird. Die zweite Kammer geht aus allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen hervor, ist also eine echte Volksvertretung. Für jedes Gesetz ist die Übereinstimmung zwischen Kaiser und beiden Kammern erforderlich. Elsaß-Lothringen „gilt“ jetzt als Bundesstaat und verfügt im Bundesrat über drei vom Statthalter zu instruierende Stimmen, die aber nicht gezählt werden, wenn durch sie eine Mehrheit für Preußen zustande kommt. Zur bundesstaatlichen Gleichberechtigung fehlt dem Reichsland jetzt nur noch die verfassungsrechtliche Selbstbestimmung, [S. 648:] wie auch die neue Verfassung als Reichsgesetz erlassen ist und nur vom Reichstag abgeändert werden kann.

Trotz dieser Sicherung ist das Gesetz gegen die Stimmen der Konservativen, denen das demokratische allgemeine Wahlrecht ein Dorn ist, verabschiedet worden; auch von den anwesenden reichsländischen Abgeordneten haben nur 4 dafür, aber 7 dagegen gestimmt. Die letzteren opponieren dagegen, daß man der Forderung des Reichslandes nach Gleichberechtigung nicht großzügiger entsprochen hat. Diese ist jedoch bei der damaligen politischen Lage nicht durchzusetzen. Andererseits wäre der Inhalt der Verfassung von 1911 zehn bis fünfzehn Jahre früher in Elsaß-Lothringu allgemein begrüßt worden und hätte die innere Bindung an das Reich erheblich gestärkt. Die Verfassung verdient aber die damals an ihr geübte Kritik nicht, da sie Elsaß-Lothringen dem Ziel, ein gleichberechtigter deutscher Bundesstaat zu werden, näher bringt. Eine „Abschlagszahlung“ nennen unabhängig voneinander der Statthalter von Wedel in einer Denkschrift und der Vorsitzende des elsässischen Zentrums, Karl Hauß, die neue Verfassung. Darauf mußte eines Tages die Schlußzahlung folgen.

Kulturelles und geistiges Leben

Die schon während des Kriegs 1870/71 erfolgte Einführung des Deutschen als Amtssprache im Generalgouvernement wird im März 1872 durch Reichsgesetz bestätigt – eine Selbstverständlichkeit für das überwiegend deutschsprachige Land. Dem romanischen Sprachgebiet – von insgesamt 1694 Gemeinden 423 kleinere mit etwa 14,5 % der Einwohner – wird schon bald die Beibehaltung des Französischen als Geschäftssprache eingeräumt. Mit Rücksicht auf die Abgeordneten der Oberschicht wird für den Landesausschuß erst 1882, für die Bezirks- und Kreistage noch sechs Jahre später Deutsch als Verhandlungssprache eingeführt.

Der Regelung der Sprachenfrage, die seit 1850 durch die Bemühungen des französischen Staates, die Schule für die Beseitigung der deutschen Sprache einzusetzen, gekennzeichnet ist, kommt auch in der reichsländischen Zeit eine besondere Bedeutung zu. Hier ist die erste Maßnahme die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und des Deutschen als Unterrichtssprache in den deutschsprachigen Gebieten. In den romanischen Gebieten bleibt Französisch als Schulsprache; die hier und in den gemischtsprachigen Gebieten getroffene differenzierte Regelung der Schulsprache und die mit der Zweisprachigkeit des Unterrichts verbundene pädagogische Leistung der Lehrerschaft ist nach 1918 im ehemaligen Reichsland oft als vorbildlich anerkannt worden. Die wiederholten Versuche der Opposition im Landesausschuß, das Französische auch in der Volksschule des deutschsprachigen Gebiets als Pflichtfach anzuerkennen, werden von der Regierung stets eindeutig zurückgewiesen.

Einen scharfen Wechsel gegenüber den Schulverhältnissen vor 1870 bedeutet das Schulgesetz vom 12. Februar 1874, durch das das gesamte niedere und höhere Schulwesen der Aufsicht und Leitung des Staates unterstellt wird. Es trifft vor allem die privaten Schulen der katholischen Kirche, von denen meh- [S. 649:] rere wegen Nichtanerkennung des Gesetzes geschlossen oder nach Frankreich verlegt werden. Die Zurückhaltung des Klerus und der katholischen Bevölkerung gegenüber Deutschland wird dadurch noch verstärkt.
Der überwiegend aus Einheimischen zusammengesetzte Stand der Volksschullehrer erkennt aber schnell die Fürsorge und Leistung der Regierung für die Schule und bekennt sich frühzeitig geistig und politisch zu Deutschland. Die im Reichsland gepflegten Formen der höheren Schule sind das Gymnasium, das Realgymnasium und die Real- bzw. Oberrealschule. Völlig neu werden nach preußischem Vorbild die Mittel- und Fortbildungsschulen entwickelt und zu hoher Blüte gebracht.

Die am 1. Mai 1872 feierlich eröffnete Universität in Straßburg ist eine wertvolle Gabe des Reichs an das wiedergewonnene Land. Von Bismarck mit der Einrichtung betraut, versteht es Franz Freiherr von Roggenbach, eine Elite junger deutscher Professoren in ihrem Lehrkörper zu vereinigen und die Hochschule finanziell großzügig auszustatten. Die in den 80er Jahren errichteten Neubauten sind mustergültig und vorbildlich in Deutschland; ihre Arbeitsräume ermöglichen in Seminarübungen – damals eine neue Form des akademischen Unterrichts – die Schulung in den Methoden jedes Fachs. Die Professorenschaft vertritt die kritische, realistische, alles Spekulative ablehnende Wissenschaft und den national eingestellten Liberalismus ihrer Zeit. Dies alles hat nur einen Nachteil: von da aus führt keine Brücke zur Geisteshaltung der Gebildeten des Landes, wie sie sich deutlich in der Zurückhaltung der einheimischen Studenten spiegelt. Die unmittelbarste Verbindung zum Land hat die evangelisch-theologische Fakultät, in der auch einheimische Professoren mit am stärksten vertreten sind. Eine katholisch-theologische Fakultät war ursprünglich vorgesehen, kommt aber wegen der durch den Kulturkampf ausgelösten Spannungen nicht zustande. Es dauert bis 1903, daß dieses Versäumnis nachgeholt wird. Die Professoren der neuen Fakultät sind zur Hälfte, ihre zahlreichen Studenten fast ausschließlich Landeskinder, mit deren Eintritt in das kirchliche Amt sich das Bild des elsässischen Klerus zu ändern beginnt. Die Ausbildung der Theologen der Diözese Metz bleibt auch weiterhin dem dortigen Großen Seminar vorbehalten. Bemerkenswert ist auch, daß etwa seit der Jahrhundertwende die Vertreter der Geschichte und Literaturgeschichte an der Universität den Fragen aus der Vergangenheit des Landes größere Aufmerksamkeit zu schenken beginnen und ihren Schülern entsprechende Themen zur Bearbeitung anvertrauen. Dem entspricht im Lande ein fortschrittliches geistiges Leben und eine aufblühende heimatgeschichtliche Forschung in einer Reihe provinzieller und lokaler Vereine. In solchen Wechselwirkungen wächst die Universität in jener Zeit mehr und mehr in ihre Landschaft hinein. Die Zahl der im Lande geborenen Studenten steigt auf 1 040 im Sommersemester 1913, während 814 Studenten aus dem übrigen Reich und 183 aus dem Ausland stammen.

Aufschlußreich ist vor allem das Wiedererwachen deutscher Dichtung im Elsaß; sie war auch vor 1870 nicht erloschen, beschränkte sich aber auf kleine Kreise und spiegelte die provinzielle Enge jener Zeit. Erst nach 1890 regt sie sich wieder in der jungen Generation, die in deutscher Sprache und Bildung erzogen wird. Christian Schmitt leitet die Bewegung mit seinen „Alsaliedern“ [S. 650:] (1891) ein. Zu ihm gesellt sich bald der aus der gleichen Kernlandschaft des Unterelsaß stammende Friedrich Lienhard, der hier den Grund für die von ihm um 1900 vertretene und im Reich freundlich aufgenommene Heimatkunst legt. Sind diese beiden noch ganz der elsässischen Tradition und der deutschen Klassik verpflichtet, so tritt die jugendliche Gruppe um die kurzlebige Zeitschrift „Der Stürmer“ (1902) unter Führung von René Schickele und Ernst Stadler mit hochwertigen Leistungen in die deutsche Literatur jener Zeit ein. Daneben entwickelt sich seit Ende der 90er Jahre im Elsaß eine Dialektliteratur als unübersehbares Zeichen des Bewußtwerdens der elsässischen Eigenart.

In der bildenden Kunst überwiegt bei weitem die Malerei, deren Vertreter z. T. deutsche, in zunehmendem Maße einheimische Künstler, sich vor allem in Straßburg zusammenfinden. Die 1890 dort gegründete Kunstgewerbeschule wirkt anregend und vermittelt den besten ihrer Schüler staatliche Stipendien zu weiterem Studium an den Akademien in Karlsruhe oder München. Seit 1905 sind der „Verband Straßburger Künstler“ (mit Mitgliedern im ganzen Reichsland) und das „Elsässische Kunsthaus“ in Straßburg die Brennpunkte der elsässischen Malerei, die im Kunstleben des Reichslands steigende Beachtung findet.

Stärker in die Breite wirkt die Musik, deren deutsche Werke im Elsaß lebendig waren, so daß sich hier viele Berührungspunkte zwischen einheimischen und zugewanderten Musikfreunden ergeben. Während Chorgesang und Konzertwesen weithin im Land verbreitet sind, kann die Oper mit ihren höheren Ansprüchen nur in Straßburg zu künstlerischer Reife gedeihen. Nach einem ersten Höhepunkt um 1900 wird sie seit 1909 unter der Leitung von Hans Pfitzner vorbildlich in Süddeutschland. Das Schauspiel hat größere Mühe, sich durchzusetzen, findet aber ständig mehr Anerkennung und Freunde.

Wirtschaft und Industrie

Die angedeutete kulturelle Entwicklung wird durch den wachsenden Wohlstand stark gefördert, der im Gefolge des wirtschaftlichen Aufschwungs im Reich sich auch in Elsaß-Lothringen einstellt. Hier wie dort ist es die Industrialisierung, die das Land und seine Bevölkerung zunehmend ihren Maßstäben unterwirft. Die Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung nimmt in der reichsländischen Zeit etwas zu, fällt aber anteilmäßig von 45,2 % (1882) auf 37,4 % (1907), während im gleichen Zeitraum der Anteil der in Industrie, Handel und Verkehr Tätigen von 43,9 % auf 49,4 % ansteigt. – Die Lage der Landwirtschaft war 1870 durchaus befriedigend; der durch den Friedensschluß erlittene Rückschlag wird seit den 80er Jahren aufgeholt durch die Schutzzölle für landwirtschaftliche Produkte, die Fürsorge der reichsländischen Verwaltung und die Selbsthilfe durch ländliche Genossenschaften und Raiffeisenkassen, ohne daß sich die landwirtschaftliche Struktur – Kleinbetriebe im Elsaß, mittlere und Großbetriebe in Lothringen – wesentlich ändert.
Die oberelsässische Baumwollindustrie, die sich seit dem Ausgang des 18. Jh. unter der Führung tatkräftiger reformierter Fabrikanten in Mülhausen [S. 651:] und den Vogesentälern außerordentlich entwickelt hat, ist 1871 im Land führend und behauptet diese Stellung die reichsländische Zeit hindurch, obwohl die Zunahme an Spindeln und Webstühlen verhältnismäßig geringer ist als im Altreich. Spitzenleistungen liefert die zugehörige Stoffdruckerei. Von den Erzeugnissen der elsässischen Textilindustrie werden seit 1895 95 % in Deutschland selbst abgesetzt oder über Deutschland exportiert.

Die größte Steigerung erfährt die Schwerindustrie, die Förderung von Eisenerz und Kohle in Lothringen, seit das Thomasverfahren die Verhüttung der posphorhaltigen Minette ermöglicht. Bodenständig sind hier die Werke der aus dem Trierischen stammenden Familie de Wendel. Daneben entstehen westlich der Mosel unter Beteiligung rheinisch-westfälischer und saarländischer Gesellschaften zahlreiche große Hüttenwerke und Bergwerksanlagen. Die Förderung von Erz steigt von 0,7 Millionen t auf 21,7 Millionen t 1913, von denen 2,8 Millionen t ins Altreich ausgeführt werden. Für die Produktion von Roheisen sind im gleichen Zeitraum die entsprechenden Zahlen 0,2 und 3,9 Millionen t, für die Förderung von Steinkohle im lothringischen Teil des Saarkohlenbeckens 0,3 und 3,6 Millionen t. Dazu werden 1904 im Oberelsaß große Kalilager entdeckt und, da die Mülhauser Banken sich versagen, mit anderem deutschen Kapital erschlossen. Im Gefolge der Schwer- und Textil industrie entwickeln sich der Maschinenbau und andere Fertigungsindustrien in gleichem Maßstab.
Dem schnellen Wachstum von Industrie, Handel und Verkehr entspricht ein großer Bedarf an Arbeitskräften, der aus dem Land allein nicht zu befriedigen ist. So wirken vor allem das Kohlenrevier und die Eisenindustrie in Lothringen wie ein Vakuum, das viele Einwanderer aus Deutschland und Italien anzieht. Die Kantone Groß-Moyeuvre, Hayingen und Fentsch im Minettegebiet verzeichnen z. B. im Zeitraum 1885–1900 eine Zunahme ihrer Bewohner um 81,1–86,6 o/o. Damit entstehen überall die sozialen Probleme. In der alten oberelsässischen Textilindustrie sind sie schon 1871 vorhanden, werden dann gemildert durch die sofortige Abschaffung der Kinderarbeit und die Einschränkung der Frauenarbeit. Entscheidende Besserung bringen wie im übrigen Reich die Sozialgesetze und die Gewerbeordnung von 1888. Gerade diese Beiträge des Staates zu einer Lösung der sozialen Frage werden in Elsaß-Lothringen voll anerkannt und auch nach 1918 nicht preisgegeben.

Der wirtschaftliche Aufschwung Elsaß-Lothringens in reichsländischer Zeit ist nicht nur verknüpft mit der gleichen Entwicklung im übrigen Deutschland, sondern ebenso bedingt durch seine Rückgliederung in den rheinischen Raum, dem es durch seine natürliche Lage seit je angehört. Sichtbares Zeichen dafür ist der Ausbau eines bis dahin fehlenden Rheinhafens in Straßburg, dessen Umschlag von 36 000 t i. J. 1893 auf fast 2 Millionen t i. J. 1913 steigt. Dazu wird seit 1901 der Rhein als Großschiffahrtsweg von Mannheim nach Straßburg ausgebaut (abgeschlossen erst 1923), durch den das Elsaß wieder die natürliche Verbindung mit allen Uferlandschaften an diesem Strom bis hin zur Nordsee erhalten soll. Die Ergänzung dazu, die Kanalisierung der Mosel, d. h. der billige Wasserweg zwischen den schwerindustriellen Gebieten in Lothringen und Rheinland-Westfalen, scheitert damals am Einspruch einflußreicher Interessengruppen. Die weitere Entwicklung steigert vor allem den Wirtschafts- [S. 652:] austausch mit dem rheinischen Raum. Vom Eisenbahngüterverkehr gehen schon 1896 47,5 % ins Reich und nur noch knapp 2 % nach Frankreich.

Der Aufschwung, den im besonderen die Stadt Straßburg erlebt, ist nicht zu überschätzen. Als Verkehrszentrum am Oberrhein zieht sie vielerlei Industrien an, und Handel und Industrie, Verwaltung und kulturelle Einrichtungen wirken zusammen, um aus Straßburg eine aufstrebende und würdige Landeshauptstadt zu machen, deren Einwohnerzahl 1870–1910 von 85 600 auf 178 900, also um 108,5 % ansteigt. Die Entwicklung der übrigen infolge des französischen Gemeinderechts verkümmerten Kommunen wird durch die vorbildliche elsaß-lothringische Gemeindeordnung von 1895 und die darin enthaltene freiere Selbstverwaltung nachhaltig gefördert.


Die Jahre 1911–1918

Die ersten Wahlen zur zweiten Kammer des elsaß-lothringischen Landtags finden im Oktober 1911 statt und ergeben für das Zentrum 24, die Liberaldemokraten 11, die Sozialdemokraten 11 und den Lothringer Block 10 Abgeordnete, dazu 2 beim Zentrum hospitierende Unabhängige und 2 Fraktionslose. Der Elsaß-Lothringische Nationalbund unter Daniel Blumenthal, Emile Wetterlé und Jacques Preiss erhält allein nur l,1 %, mit Unterstützung des Zentrums 2,1 % der abgegebenen Stimmen. Von den im Reichstag vertretenen großen Parteien fehlen hier völlig die Konservativen, vielmehr zeigt das elsaß-lothringische Volksparlament durchgehend einen demokratischen Grundzug. Dieser verursacht häufig Reibereien mit der vom Kaiser eingesetzten Regierung, obwohl ihr Chef, Staatssekretär Hugo Freiherr Zorn von Bulach, ein elsässischer Edelmann ist. Das Parlament leistet in der kurzen Zeit seines Bestehens (1911–1918) gute Arbeit zum Wohl Elsaß-Lothringens. Wo es das Recht des Volkes geschmälert oder seine Würde verletzt sieht, ergreift es geschlossen seine Partei. Von ihm erklärt rückschauend der Colmarer Zentrumsabgeordnete Xavier Haegy: „Wir haben unsern Landtag geschätzt als die kostbarste Errungenschaft der Jahrzehnte.“

Seit der Marokkokrise 1905 verliert das Reich an internationaler Bedeutung, und im gleichen Maße nimmt in Frankreich die Propaganda für eine „Wiedergutmachung des Unrechts von 1870“ zu. Sie wird auch in Elsaß-Lothringen in geschickter Form als Werbung für die französische Kultur betrieben, ohne daß man ihr von deutscher Seite etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen versteht. Das führt zu häufigeren Zwischenfällen und erhöht die politische Spannung im Land. Bis zu welchem Grad sie gestiegen ist, offenbar der „Fall Zabern“ im Spätjahr 1913. Durch die Meldung einer elsässischen Zeitung, daß ein Leutnant der Garnison Zabern durch den schillernden mundartlichen Ausdruck „Wackes“ die Elsässer beleidigt habe, entsteht zunächst im Reichsland, dann ebenso im Reich eine politische Erregung, die sich schnell steigert. Das Militär ist in Unkenntnis der psychologischen Lage im Land nicht zum Nachgeben bereit, obwohl die Angelegenheit durch eine rechtzeitige Versetzung des Leutnants leicht zu bereinigen gewesen wäre. Auch die zivile Regierung zögert zu lange entschlußlos, letztlich weil bei der verfassungsrechtlichen Ordnung [S. 653:] des Reichslands versäumt worden ist, die Zuständigkeiten der militärischen und zivilen Gewalt klar gegeneinander abzugrenzen. Da beide Kammern des elsaß-lothringischen Landtags die Eigenmächtigkeit des Militärs und die Untätigkeit der Regierung einer scharten Kritik unterziehen, tritt diese zurück, und Statthalter von Wedel reicht seinen Abschied ein. Hochgespielt wird der „Fall Zabern“ aber vor allem von der deutschen Presse und der Opposition im Reichstag; sie bieten dem Ausland, zumal Frankreich, eine billige Gelegenheit, sich über den preußischen Militarismus zu entrüsten. Dem zusammenfassenden Urteil eines Kenners wie Fritz Bronner: „Die politische Instinktlosigkeit des deutschen Volkes der Vorkriegszeit wie die niederdrückende Unfähigkeit seiner politischen Führung fanden im ,Fall Zabern' ihren scharfen Ausdruck“, ist nichts hinzuzufügen.

Verkehrt wäre es aber, diesen und andere „Fälle“ im Reichsland als sichere Kennzeichen für die dortige Lage zu nehmen. Soweit bei solchen Gelegenheiten das gesteigerte politische Selbstbewußtsein des Volks und seine Ablehnung der häufig nicht glücklichen Bevormundung durch die Berliner Zentrale in Erscheinung treten, ist es alles andere als der „Protest“ der 70er Jahre, ist es vielmehr der Partikularismus, den Bismarck bewußt stärken und als Brücke zum bundesstaatlich organisierten Deutschen Reich benutzen wollte. Als Beleg dafür nur ein Satz aus seiner Reichstagsrede vom 25. Mai 1871: „Je mehr sich die Bewohner des Elsaß als Elsässer fühlen, um so mehr werden sie das Franzosentum abtun.“ Indessen hat man inzwischen vergessen, wie klar er diese Entwicklung vorausgesehen und dafür Geduld gefordert hat. Man nimmt, in der Sicht vom Reich her, den kleinen Kreis, der auf die französische Propaganda anspricht, als repräsentativ für das Ganze und erkennt nicht, daß sich die Dinge von Grund auf gewandelt haben, daß die überwiegende Mehrzahl der Elsaß-Lothringer sich Deutschland zugehörig fühlt, daß die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse links und rechts des Rheins sich angeglichen und die deutschen Parteien und Gewerkschaften im Lande Fuß gefaßt haben, vor allem, daß das Konnubium zwischen Einheimischen und Zugewanderten in der jungen Generation selbstverständlich geworden ist. Selbst die französische Bourgeoisie schätzt ihre geschäftlichen Verbindungen mit den Deutschen und denkt nicht mehr an einen Wechsel ihrer staatlichen Zugehörigkeit um den Preis eines Krieges.

Der Weltkrieg hat seine Gründe weitab vom Reichsland; aber er wischt dort schlagartig alles Vordergründige hinweg und zeigt, wie es wirklich inmitten des Reichs steht. Hier wie dort herrscht die gleiche Kriegsbegeisterung, melden sich die Freiwilligen, vollzieht sich die Mobilmachung in größter Ordnung, was der Statthalter und die Generäle der im Reichsland stehenden Korps ausdrücklich und mit Dank an die Bevölkerung bestätigen. Einzelne Versager können das Bild nicht trüben. Bald aber treten Veränderungen ein, bedingt vor allem durch die Übernahme der vollziehenden Gewalt durch das Militär, das, im frontnahen Gebiet des Reichslandes begreiflich, die Landesregierung so gut wie ausschaltet. So ist das in militärischen Kreisen nie erloschene Mißtrauen gegenüber der „Unzuverlässigkeit“ der Grenzlandbevölkerung leicht geneigt, Einzelfälle des Versagens zu verallgemeinern und die elsaß-lothringischen Soldaten Sonderbestimmungen (z. B. Verwendung nur an der [S. 654:] Ostfront) zu unterwerfen, die fast auf eine Entehrung hinauslaufen. Tatsache ist, daß die Mehrheit der reichsländischen Soldaten ihre Pflicht bis zum Ende erfüllt hat. Da auch ihre Heimat ständig erschwerenden Ausnahmegesetzen und Verkehrsbeschränkungen unterliegt, verschlechtert sich mit der langen Kriegsdauer die Stimmung – genau wie in Binnendeutschland. Nur stempelt man die Zweifler und Kritiker im Grenzland kurzerhand als Franzosenfreunde ab, greift man nur die Fälle des Versagens heraus und übersieht die Pflichterfüllung der Deutschgesinnten.

Starke politische Unruhe entsteht, als durchsickert, daß schon seit dem Spätjahr 1914 wieder die Pläne einer Aufteilung des Reichslands oder seine Angliederung an Preußen diskutiert werden. Mochten die Begehrlichkeiten einzelner Bundesstaaten sich auch wechselseitig blockieren, dieser Versuch, die in der Verfassung von 1911 schon halb zugestandene und weiterhin erstrebte volle bundesstaatliche Gleichberechtigung zu hintertreiben, während die wehrfähige Mannschaft für die Selbstbehauptung des Reichs im Felde steht, macht böses Blut und steigert die vorhandene Unzufriedenheit im Lande.

Nach dem von militärischer wie von Regierungsseite immer wieder an den Tag gelegten Mißtrauen gegenüber der Haltung des Reichslands ist die Erklärung des neuen Reichskanzlers Prinz Max von Baden in seiner Reichstagsrede vom 5. Oktober 1918, auch Elsaß-Lothringen habe vollen Anspruch auf bundesstaatliche Autonomie, wirklich ein Zeichen der Zeit – ein Zeichen für das nahe Ende des Weltkriegs mit all seinen schweren Folgen für das unterlegene Deutsche Reich. Am 14. Oktober werden noch der Straßburger Bürgermeister Rudolf Schwander zum Statthalter, der erste Elsässer auf diesem Posten, und der Führer des elsässischen Zentrums, Karl Hauß, zum Staatssekretär ernannt. Das geschieht, obwohl die Reichsregierung in der Note an Wilson vom 5. Oktober schon seine „14 Punkte“ als Grundlage der Friedensverhandlungen angenommen und damit auf Elsaß-Lothringen verzichtet hat, denn der 8. Punkt sieht die Wiedergutmachung des Frankreich 1871 zugefügten Unrechts vor. Die Reichsregierung verkennt mit ihrer Absicht, Elsaß-Lothringen trotzdem das Recht der Selbstbestimmung zu sichern, völlig den Willen Frankreichs. Die reichsländischen Parlamentarier haben einen klareren Blick dafür, daß die elsaß-lothringische Frage nicht mehr von Deutschland, sondern von Frankreich, überhaupt auf internationaler Grundlage entschieden wird. So kommt es in Straßburg auch nicht mehr zu einem Ministerium, das aus Mitgliedern der Fraktionen des Landtags gebildet worden wäre, sondern nur zu einem provisorischen Geschäftsministerium, dessen Tage schon gezählt sind. Sie sind erfüllt von Überlegungen und Bemühungen, wie das Recht der Selbstbestimmung, auch das einer Neutralisierung Elsaß-Lothringens, gewahrt werden könne. Doch die Kriegsereignisse bereiten allen Erwägungen ein Ende. Vom 16. bis 22. November rücken die französischen Truppen in Elsaß-Lothringen ein; seine Wiedervereinigung mit Frankreich wird dann im Versailler Vertrag auf den Tag des Waffenstillstands, den 11. November zurückdatiert.

Der jubelnde Empfang der französischen Truppen, besonders in den Städten, ist eine Enttäuschung für Deutschland. Er ist die Reaktion darauf, daß die Menschen im frontnahen Elsaß-Lothringen vom harten Druck des Kriegs fast [S. 655:] schlagartig befreit sind, daß eine geschickte Propaganda dem Bild des preußischen Militarismus das des freiheitlichen Frankreichs gegenübergestellt und die Wirkung von „Weißbrot und Rotwein“ in einem ausgehungerten Land genau eingerechnet hat. Dadurch wird manches menschlich verständlicher. Die Kehrseite dieser Erscheinungen, die Gefühle der durch den erneuten Wechsel ihrer Heimat schmerzlich getroffenen Einheimischen, wird nicht berücksichtigt. Die Rückkehr der elsässischen und lothringischen Soldaten in ihre französisch gewordene Heimat mit den vorgeschalteten Internierungen und umständlichen Untersuchungen ist für die Betroffenen ein niederdrückender Empfang.
In seinen „Erinnerungen“ berichtet Raymond Poincaré von einem Mitschüler, der während des Kriegs im Sundgau stand und ihm „mit Trauer“ erzählt habe, daß dort „viele Einwohner das französische Staatsgefühl verloren haben“ und daß es Deutschland dort gelungen sei, die „arme elsässische Seele nach seinem Sinn umzuformen“. So muß es ein französischer Patriot sehen. Der geschichtlichen Wahrheit kommt man aber näher mit der Feststellung, daß Elsässer und Lothringer in reichsländischer Zeit wieder die Möglichkeit hatten, in ihrer angestammten Art freier als vorher und nachher in Frankreich bewußt, und in diesem ihrem Selbstbewußtsein setzen sie den sofort wieder aufgenommenen Französisierungsbestrebungen seit der Mitte der 20er Jahre ihre heimatrechtlichen Forderungen entgegen – eine späte, aber eindringliche Rechtfertigung des Einschnitts von 1871. Der damals von Bismarck gewiesene Weg, Elsaß-Lothringen schrittweise in das bundesstaatlich organisierte Reich bis zur vollen Gleichberechtigung einzugliedern, war nur stockend weitergeführt worden. Trotzdem war die Eingliederung weitgehend geglückt. Das Ziel konnte nicht erreicht werden, weil die im Gang befindliche Entwicklung vorzeitig durch den Krieg unterbrochen wurde und die Kriegsgeneration politisch nicht mehr zum Zuge kam. Diesen Tatbestand faßt wiederum F. Bronner treffend zusammen: „Das Reich hat Elsaß-Lothringen nicht verloren, weil es dort Fehler gemacht hat; es hat das Land verloren, auch im Sinne der inneren Zusammengehörigkeit, weil es den Krieg verloren hat.“ Der anonyme Schreiber im Jahrgang 1913 der in Nancy erscheinenden „Marches de l‘Est“, der unablässig für die verlorenen Provinzen werbenden ostfranzösischen Grenzlandzeitschrift, hat mit seinen Worten: „Wenn Frankreich Preußen das halbhundertjährige Gedächtnis der Annexion Elsaß-Lothringens feiern läßt, darf es ein Kreuz über die Angelegenheit machen, braucht dann aber nicht mehr von seiner Ehre zu reden“, in fast prophetischer Weise recht behalten.


Christian Hallier: Das Reichsland Elsaß-Lothringen 1871–1918. Aus: Geschichte der deutschen Länder. Band 2: Die deutschen Länder vom Wiener Kongreß bis heute. Hg. von Georg Wilhelm Sante, Würzburg 1971, S. 641–655 © PLOETZ in der Herder GmbH 1971.